Reise quer durch die Theaterlandschaft
Die Studierenden-Jury zum diesjährigen Festival
Zum 21. Mal feierte Heidelberg in den letzten Wochen das jährliche Theaterfestival. Diesmal reisten zu diesem Anlass acht freie Bühnen aus Deutschland und der Schweiz an, um ganz unterschiedliche Produktionen darzubieten, sich im Wettbewerb zu messen und schließlich dem Urteil der Fach-, Publikums- und Studierenden- Jury zu stellen.
Wir – eine Gruppe von zehn theaterbegeisterten Studentinnen und Studenten aus allen Semestern und Fächern – bildeten die studentische Jury unter der Leitung von Professor Dr. Karin Tebben vom Germanistischen Seminar der Heidelberger Universität. In vorbereitenden Seminaren und an so manchem Abend trafen wir zusammen, um über das auf der Bühne zu Erwartende und Dargebotene zu diskutieren. Schließlich sollten wir uns auf einen gemeinsamen Favoriten einigen; angesichts der beeindruckenden Vielfalt an Darstellungsformen und Inhalten war dies alles andere als einfach. In nur zehn Tagen bekamen wir von klassischem Sprechtheater über Puppenspiele bis hin zu Theatercollagen alles zu sehen. Auch thematisch nahmen uns die Ensembles mit auf eine Reise quer durch die Theaterlandschaft: Wir durchlebten die schwierigen Folgen eines Drogenentzugs („Enter2Esc“), wurden mit historischen Ereignissen und engagierten Frauen konfrontiert, die uns auch heute noch als Vorbilder dienen könnten („Rosa – Trotz alledem“, „Name: Sophie Scholl“) und einiges mehr.
In David Harrowers „Blackbird“, inszeniert vom Ensemble der Waggonhalle Marburg, treffen Ray und Una nach sechzehn Jahren wieder aufeinander. Nachdem er sie, eine damals Zwölfjährige, missbraucht hat, stellt sie ihn nun zur Rede. Mehr und mehr wird im Laufe des Stücks mit Zuschauersympathien gespielt, die sich zunehmend von Una auf Ray verlagern, sodass überlieferte Vorstellungen von Opfer- und Täterrollen verschwimmen. Immer wieder lässt das Zwiegespräch auf der Bühne die Zuschauer moralische Prinzipien infrage stellen. Nach der Aufführung kommt es zu einer intensiven und kontroversen Diskussion im Publikum: Wer sagt wann die Wahrheit? Wie sind beide Figuren zu beurteilen? Was sagt es über uns, wenn wir mit Ray sympatisieren?
In „Clockwork Orange“, basierend auf dem Roman von Anthony Burgess (1962) und der Verfilmung durch Stanley Kubrick (1971), geht es ebenfalls um Täterschaft. Das Stück erzählt die Geschichte von Alex, dem Mitglied der „Droogs“, einer Gang, deren gemeinsame Abende nach reichlichem Drogenkonsum in vermeintlich sinnlosen Gewaltausbrüchen enden. Im Verlauf des Stücks wird Alex im Gefängnis scheinbar von seinen gewaltsamen Neigungen geheilt; er wird aber auch zum Spielball eines Systems, das bereit ist, den Willen eines Einzelnen zu brechen, um die Sicherheit vieler zu wahren. Auch hier verwischen die Grenzen zwischen Täter und Opfer, indem die fünf Schauspieler eine Vielzahl von Rollen einnehmen. Sind sie zunächst Mitglieder in Alex’ Gang, übernehmen sie später auch die Rollen von Opfern. Der Regisseurin, Charlotte Sprenger, gelingt es, unterschiedliche Facetten und Formen von Gewalt zu beleuchten, ohne auch nur einen einzigen Akt der Gewalt auf der Bühne zu präsentieren. Als Alex einem fragwürdigen Experiment unterzogen wird, das ihn von seiner Gewalttätigkeit heilen soll, wird das Publikum Teil des Experiments: Was tun, wenn der einzige Schauspieler auf der Bühne zehn Minuten lang wortlos ins Leere starrt? Was ist freier Wille?
Nach langem Abwägen fiel die Abstimmung über unseren diesjährigen Sieger des Festivals, die Performance Gruppe „NomerMaids“ oder „NoMermaids“, denkbar knapp aus. Über die Preisverleihung freuten wir uns deshalb, weil neben dem von uns gekürten Stück „Wann hast du das letzte Mal auf der Spitze des Berges Sex gehabt?“ mit „Clockwork Orange“ und „Blackbird“ zwei weitere tolle Produktionen ausgezeichnet wurden, von denen wir uns erhoffen, sie im kommenden Jahr noch einmal in Heidelberg sehen zu dürfen.




